Wir haben nicht immer die richtige Wahl

Wir haben nicht immer die richtige Wahl, aber eine Wahl haben wir immer. Zu Studienzeiten lebte ich eine Weile in einem abrissreifen Haus mit drei sympathischen, aufgeweckten Menschen in einer Wohngemeinschaft. Eines Tages spazierte ein in unserem Universitätsstädtchen wohlbekannter Professor an unserer WG vorbei. Er war ein sehr linker, sehr belesener, sehr kluger, sehr lauterer und sehr mutiger Mensch.


Exakt diese Kombination ist, vorsichtig gesprochen, eher selten, gerade unter Professoren. Obendrein war er humorvoll und aufgeschlossen. Vielleicht war sein Humor ein wenig … trocken, doch die Präzision und die Verständlichkeit seiner Worte (gesprochen wie geschrieben) wurde von wenigen erreicht. Er war intellektuell außergewöhnlich sauber. Auch Menschen, die seine politischen Ansichten nicht teilten, und das waren die meisten, konnten (und können) mit seinen Beobachtungen und Analysen deshalb etwas anfangen.
Jener Professor, den ich, wie unschwer zu erkennen ist, sehr schätze, spazierte also an unserer Bruchbude vorbei. Ich war nicht daheim, aber Frank, mein Mitbewohner. Er erzählte mir, dass Professor Fülberth stehen blieb, lachte, einen Fotoapparat zückte und unser Haus (wenn man es denn so nennen wollte) fotografierte. Es war 1989, Europa-Wahlkampf, und wir hatten, in erster Linie für die benachbart lebenden Burschenschafter, ein altes Betttuch zum Transparent umfunktioniert: «Wir wählen DKP – aber nur, um die Grünen zu ärgern».
Damals zogen die rechtsradikalen Republikaner ins Europaparlament ein. (Die Welt ging nicht unter, aber ein besserer Ort wurde sie gewiss nicht.)


Heute, 28 Jahre später, wurde erstmals die AfD, deren Führungspersonal mit Hitlerbart im Schambereich herumläuft, in den Bundestag gewählt, von einer Wählerschaft, die zu 95% aus Ressentiment und zu 100% aus Angst so wählte. Ich habe heute, in Erinnerung an unser Betttuch und Professor Fülberth, der lange Jahre für die Deutsche Kommunistische Partei im Marburger Stadtrat saß, die Linken gewählt. Wir haben nicht immer die richtige Wahl, aber eine Wahl haben wir immer.

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