Vor einiger Zeit in “meiner” Bibliothek: Ein junger Mann tritt ein und fragt, wo er den Gebetsraum findet. Wir haben keinen Gebetsraum. Er beharrt darauf, dass es in der Bibliothek einen gibt. Ich bestehe darauf, dass nicht. Er verlässt die Bibliothek äußerst verärgert. Am nächsten Tag erfahre ich von einer Kollegin, dass sich seit einiger Zeit muslimische Männer zum gemeinsamen Beten im Treppenhaus treffen. Was ich bis dahin tatsächlich nicht wusste.
Zwei Dinge: zum Einen wollte ich den jungen Mann weder irreführen noch beleidigen. Zum Andern war ich fast froh, dass mir das mit dem zum Gebetsraum umfunktionierten Treppenabgang tatsächlich nicht bekannt war. Denn das bringt mich jetzt in einen Konflikt zwischen diesem Wissen und meiner Überzeugung, dass Religionsausübung (gleich welcher Religion) nicht in einen säkularen Raum gehört.
Ich habe diesen inneren Konflikt bis heute nicht gelöst. Zur Zeit behelfe ich mir, indem ich gewissermaßen die Augen schließe, dh. solche Zusammenkünfte ignoriere. Das ist nicht zufriedenstellend, und so verursacht mir dieser Behelf auch ein gewisses Unbehagen.
Ist meine Haltung fehlender Respekt vor der Religion?
I.
In einer Kirche ziehe ich den Hut ab, in einer Synagoge die Kippa auf, in einer Moschee die Schuhe aus. In keinem der drei Gotteshäuser renne ich umher, blitze beim Fotografieren, rede oder lache laut. Ich besuche alle diese Gotteshäuser voll Interesse und Respekt – und außerhalb der Gottesdienstzeiten. Was ich im Gegenzug erwarte ist, dass mir als Nichtgläubigem (man ist ja immer in viel mehr Religionen Nichtgläubiger als Gläubiger) ebenfalls Respekt gezollt wird. Dazu gehört, dass öffentliche Gebäude nicht ohne Absprache mit dem Eigentümer zu religiösen Zusammenkünften genutzt werden. Das hat keineswegs mit Feindseligkeit einer Religion gegenüber zu tun. Sondern mit getrennten Sphären und damit, dass nur diese Trennung uns vor vorreformatorischen Zuständen bewahrt.
Glaubt mir, liebe Gläubige: ich werde mich jederzeit dafür einsetzen, dass Ihr Eure Religionen ausüben dürft, in Euren Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempeln. Aber kein Mensch hat das Recht, seine Religion über eine andere zu stellen. (Auch dann nicht, wenn sie es verlangt!) Und jeder Mensch hat das Recht, ohne Religion zu leben. Es ist ein sehr wertvolles Recht, das zu erkämpfen viele Menschen vieles erleiden mussten. Ich möchte es nicht wieder hergeben. Und Ihr, liebe Gläubige jedweder Religion, Ihr ebenso wenig, wenn Ihr einen Moment darüber nachdenkt, denn es schützt Euch vor den Eiferern anderer Religionen. Das heißt: öffentliche Orte, also auch Bibliotheken, sind keine Plätze für religiöse Rituale. (Jaja, der Religionsunterricht… warum das etwas anderes ist, und warum ich das eigentlich auch nicht für richtig halte, würde definitiv zu weit führen.)
Wie lang ist das mit der Reformation her? Vierhundertfünfzig Jahre? In etwa einem halben Jahrtausend haben wir in Europa gelernt, dass man Gott auf mehr als eine Art verherrlichen kann. Oder es ganz sein lassen. Und immer wenn wir das vergessen haben, haben wir blutig bezahlt dafür.
Anders gesagt: in Europa hat sich sehr langsam, und immer noch unvollständig, etwas wie ein kulturelles Wissen darüber gebildet, dass Religion Privatsache sein sollte.
Okay, das mit dem Antisemitismus. Hässlich. Nein: Schlimm. Nein: mit das Schlimmste, wenn nicht das Schlimmste überhaupt, das in Europa (tut mir leid, liebe Landsleute: vor allem in Deutschland) je entstanden ist. Und, sehr verwunderlich, er ist immer noch virulent. Was meinem Gedanken, in Europa (wenigstens hier…) sei Religion privat, scheinbar widerspricht. Nur scheinbar, denn dieser Judenhass ist ja gar nicht religiös begründet… er ist Aggressionsbedürfnis, das eine kollektive Form gesucht hat und gefunden.
Trotzdem: derzeit machen die Europäer im Wesentlichen andere Fehler als religiöse. Das heißt, sie begründen ihre Fehler nicht mehr mit Religion. Wir haben uns hier im Wesentlichen darauf geeinigt, dass Religion Privatsache ist. Und das ist ein gigantischer Fortschritt. Es gibt Ausnahmen: das Konkordat der kath. Kirche mit der Bundesrepublik, die entsprechenden Staatsverträge anderer Kirchen und religiöser Gemeinschaften.
Aber ob Sie einen einzigen Gott anbeten und welchen, ob Sie vielleicht an mehrere glauben oder an gar keinen: geht den Staat nur in Bezug auf Ihre Kirchensteuer etwas an, und die Gesellschaft gar nichts. Ich darf glauben, dazu geweihte Männer verwandelten Wein in das Blut eines vor ca. 2000 Jahren von italienischen Besatzungstruppen hingerichteten Palestinensers jüdischer Herkunft. Ich darf glauben, dass mein Tod nicht mein Ende ist. Ich darf mich auch zu dem Glauben bekennen, dass der wichtigste Prophet Gottes Mohammed heißt. Oder jenem, dass der Messias noch gar nicht da war und alles gut wird, wenn er erst mal kommt.
Ich bin aber auch frei, das alles nicht zu glauben. Und darüber vielleicht sogar traurig zu sein…
II.
Aber Glaube oder nicht, diese Glaubenssysteme haben auch etwas Erstaunliches erschaffen: Moral. Moral ist doch gut, oder? Na ja. Problematisch wird’s hierzulande spätestens, wo das, was die jeweilige religiöse Moral fordert, in Widerspruch zu jenen Regeln gerät, die von unserer Gesellschaft aufgestellt werden. Dann ist abzuwägen, ob der/die Gläubige mit seinem religiös motivierten Verhalten andere unzumutbar belästigt, oder ob die freie Gesellschaft bestimmte religiös motivierte Verhaltensweisen im Namen eben dieser Freiheit hinnehmen muss. Das klingt so abstrakt? Ja.
Das übliche Beispiel aus den Talkshows ist die Frau, sei sie Muslimin oder christliche Ordensschwester, die in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen will. Ich persönlich halte das Recht eines Menschen, sich zu kleiden wie er möchte, für wichtiger als die in den Massenmedien diskutierten Vorbehalte gegen Kopftücher. Aber wenn eine Frau eine Burka trägt, habe ich doch ein Problem. Ich empfinde es als unmenschlich, sich so zu vermummen. Die Person dahinter ist in der Öffentlichkeit unsichtbar. Mir scheint darin eine Art der Auslöschung dieses Menschen zu liegen.
Aber vielleicht muss ich das hinnehmen, weil das Recht der Person, sich in der Öffentlichkeit vermummt zu bewegen, höher zu bewerten ist, als meine Beklemmung? Ich weiß es nicht. Ein paar Dinge müssen wir ertragen, als Teil der Freiheit, etwas ungeregelt, also frei zu belassen.
Doch darf es keine Frage der Religion sein, ob und wie die Gesellschaft solche Dinge regelt. Es ist nun einmal so, dass wir alle, mit den unterschiedlichsten moralischen und religiösen Vorstellungen, denselben Öffentlichen Raum teilen. Also benötigen wir eine Methode, die Dinge ohne religiöse Begründungen zu regeln, damit sie für alle verbindlich werden. Etwas, das alle ungeachtet religiöser Unterschiede gleich behandelt, das alle gleichermaßen verpflichtet und schützt.
Das Recht. Das Gesetz. Und wenn das Gesetz schlecht ist, ungerecht, falsch? Dann muss es geändert, verbessert oder gestrichen werden. Dabei religiöse Begründungen anzuführen ist nicht statthaft. Für sich selbst kann und darf jeder Mensch religiös motivierte Entscheidungen treffen. Die Öffentlichkeit muss ein religionsfreier Raum sein. Und werden, wo sie es noch nicht ist.
Gläubige aller Religionen, übt Euren Glauben aus; nehmt ihn ernst (sonst solltet Ihr es eh lassen, alle Götter speien die Lauen aus ihrem Munde, nicht nur der christliche). Wenn Euer Gott aber Dinge verlangt, die gegen das Gesetz verstoßen, folgt ihm nicht und unterlasst sie. Unterlasst sie vielleicht bereits, wenn sie anstößig auf andere wirken könnten, die nicht Eures Glaubens sind. Gebt der Zivilgesellschaft, was der Zivilgesellschaft ist, dann gibt sie Euch, hoffentlich, zurück: Schutz und Freiheit. Habt keine Angst, Eure Götter würden Euch dafür strafen. Wenn, dann würden sie uns andere strafen, oder nicht?
Übrigens: Eurer Hilfe bedürften sie dazu gewiss nicht. Es sei denn, sie existierten nur in Eurer Vorstellung.